An einem sonnigen Frühlingsnachmittag beim Kaffee mit dem äußerst charmanten Herausgeber der „Jahrbücher des Franz Simon Meyer. 1799 – 1871“.
Sebastian Diziol ist promovierter Historiker und leidenschaftlicher Musiker.
Herr Diziol, wo und wann sind Sie auf das Manuskript aufmerksam geworden?
Vor genau 12 Jahren hatte ich mein Grundstudium an der Uni Karlsruhe beendet und musste warten, bis mein Masterstudium in England begann. Ich überbrückte die Zeit mit Praktika, unter anderem im Stadtarchiv Baden-Baden – meiner Heimatstadt. Ich mochte die Arbeit auf Anhieb und auch mit der Archivarin, Dagmar Rumpf, habe ich mich gut verstanden. Irgendwann hat sie mir als einen ihrer größten Schätze die Jahrbücher Franz Simon Meyers gezeigt.
Wie war Ihr erster Eindruck?
Ich war hin und weg. Da lagen also 2 sehr wertvoll aussehende, überformatige, hochwertige in rotes, lederartiges Material gebundene Bände – unglaublich dick, zusammen etwa 1.500 Seiten. Man sah ihnen an, dass sie über Jahrzehnte hinweg viel benutzt wurden, sie sahen zerfleddert aus, aber oder vielleicht gerade deshalb wunderschön. Ich schlug eines der Bücher auf und auch wenn das Schriftbild auf den ersten ungeübten Blick nicht so leicht zu lesen ist, war es sehr ästhetisch. Franz Meyer hat das Buch sehr durchdacht gestaltet – mit viel Liebe zum Detail.
Obwohl ich zu wenig Übung in Sütterlin hatte und es noch nicht so gut lesen konnte, habe ich trotzdem angefangen, die Vorrede zu entziffern, und war überwältigt und gerührt. Franz Meyer schreibt, dass er dieses Buch langsam füllen wird. Mit seinem Leben. Und lässt die Vorrede mit den zukunftsoffenen und hoffnungsvollen Worten enden: „Gott gebe, dass es, einst voll, des Erfreulichen viel, des Traurigen nur wenig enthalte!“ Dann habe ich mir Beilagen – viele Briefe, Kupferstiche, Zeichnungen und Gemälde – angeschaut, habe diese Bücher immer wieder einfach durchgeblättert. Und ich wusste sofort, ‚wenn ich mal groß bin‘, möchte ich die mal edieren, weil mir ziemlich schnell klar wurde, dass sich anhand dieser drei Bände das komplette 19. Jahrhundert erklären lässt.
Und das hat 12 Jahre gedauert?
Also um so ein Buch zu machen oder zu denken, man könnte sich jetzt daran wagen, braucht es sehr viel mehr als nur die reine Begeisterung für das Manuskript. Seither habe ich meinen Master in England gemacht, in Hamburg promoviert über den Deutschen Flottenverein, was eine sehr wichtige Erfahrung war. Die Erfahrung, einen ausführlichen, kohärenten, langen Text zu verfassen – bei meiner Dissertation waren es 860 Seiten. Also vom ersten Archivbesuch bis zu dem ganz großartigen Moment, dass da ein fertiges Buch liegt, ist es ein langer Weg. Ich glaube ohne diese Erfahrungen wäre es nicht möglich, diese 3-bändige Edition anzugehen. Nicht zuletzt ist der Solivagus-Verlag und der Verleger Stefan Eick zu erwähnen, ich glaube, dass es kaum einen anderen Verlag auf der Welt gibt, der ein solches Buch in dieser Form angehen würde – aus purer Leidenschaft und Überzeugung für dieses Projekt. Nach dem Credo: Dieses Buch ist gut und die Welt verdient, dass es dieses Buch geben wird und dass dieses Buch schön wird und dass es den Rahmen bekommt, den es verdient.
Ich selbst bin in den vergangenen 12 Jahren etwas älter geworden, habe ein wenig Lebenserfahrung gesammelt, ein wenig die Hörner abgestoßen, bin viel gereist. Das hilft mir, Franz Meyers geschilderte Erfahrungen nachvollziehen zu können.
Zwischen den Zeilen höre ich eine persönliche Verbindung zu Franz Meyer heraus. Stimmt das?
Ja, die Verbindung ist mittlerweile sehr stark zwischen Meyer und mir. Vor 200 Jahren saß er und hat das aufgeschrieben, es gab seither sehr wenige Leser dieses Buches, ich behaupte es gab niemanden, der es von vorne bis hinten gelesen hat. Ich werde der Erste sein.
Lassen Sie uns doch mal einen inhaltlichen Einstieg wagen. Auf welche Themen dürfen wir gespannt sein in den Tagebüchern von Franz Meyer?
Oh, das sind keine Tagebücher! Ich wage mich sogar soweit hinauszulehnen und zu sagen, dass wir es bei ihm mit einer einzigartigen Textgattung zu tun haben. Die klassischen Ego-Dokumente sind Tagebücher und Autobiografien. Die erste Gattung zeugt von großer Unmittelbarkeit, weil sie jemand Tag für Tag und in der Regel ausschließlich für sich selbst aufschreibt. Da steht dann: heute essen gewesen, anschließend Wäsche gewaschen, anschließend zwei Stunden gelesen usw. Meistens fehlt da ein Narrativ. Eine Autobiografie dagegen wird im Nachhinein geschrieben und wird üblicherweise für ein Publikum verfasst. Sie folgt ganz bestimmten genretypischen Formalia. In der Regel ist es eine Aufstiegsgeschichte, verkürzt dargestellt: es war schwer, es war hart, ich hab viele Widerstände überwinden müssen und alle waren gegen mich, aber ich habe es trotzdem geschafft. Bei Meyer finden wir eine Sonderform – die der Jahresberichte. Das heißt wir haben normalerweise ein Mal im Jahr einen Bericht von dem, was für ihn im vergangenen Jahr wichtig war. Das bedeutet, dass wir einerseits die Zukunftsoffenheit und die Unmittelbarkeit des Tagebuchs haben und andererseits das Narrativ einer Autobiografie. Während eine Autobiografie keine Zukunft hat, sondern nur eine Vergangenheit, hat das Tagebuch nur eine Gegenwart und eine Zukunft, diese Jahrbücher von Meyer aber befinden sich genretechnisch gesehen eben genau in der Mitte.
Wow, das hört sich richtig spannend an!
Thematisch liegen bei ihm die Schwerpunkte bei seiner Familie, politischen Ereignissen und nicht zuletzt seinem Geschäft.
Die familiären Ereignisse bilden bisher das Zentrum. Er ist ein ausgeprägter Familienmensch und beschreibt sehr ausführlich, wer beispielsweise heiratet, wer stirbt, und das eben oft mit einer sehr großen emotionalen Nähe, sehr rührend und ergreifend. Sozusagen auf Platz zwei folgen politische Ereignisse. Er interessiert sich stark für politische Vorgänge auf der ganzen Welt. Für ihn ist es genauso wichtig, was in Brasilien geschieht, wie das, was vor seiner Haustür passiert. Weiter beschreibt er seine Geschäfte. Er ist Kaufmann in Rastatt und eröffnet später in den 1830’er Jahren die erste Bank in Baden-Baden. Dort wird er zu einem der wichtigsten Kreditgeber – unter anderem für Edouard Bénazet und die Spielbank, und trägt damit entscheidend dazu bei, dass Baden-Baden zu der wichtigen Kurstadt werden kann, die sie dann zunehmend wurde.
Speziell in Band I gibt es viele Reiseberichte. Den ersten schreibt er als 16-jähriger Schüler. Man könnte sagen, dass er seine Erzählung mit einem Schulaufsatz eröffnet. „Meine Reise nach Mailand“ liest sich entsprechend. Literarisch ist es noch nicht wirklich geschliffen, umso spannender ist die Entwicklung seiner Ausdrucksweise bis in sein 70. Lebensjahr hinein. Er beschreibt weiter seinen Auslandsaufenthalt in Paris und seine Reise nach London, Manchester und Liverpool.
Zusätzlich haben wir seine, wie soll ich dazu sagen „Ich packe meinen Koffer und nehme mit“ – Liste, in der alles ganz genau dokumentiert ist bis zur letzten Unterhose – von denen er zwei dabei hatte – was er auf seine Reise mitnimmt. Er hat genau Buch geführt über seine Ausgaben auf seinen Reisen. Tag für Tag jeden ‚Cent‘ dokumentiert, den er ausgibt oder jeden Franc, den er ausgibt. Wir können nachverfolgen, was er in diesen Jahren genau macht. Wo trinkt er Kaffee? Wo geht er ins Theater? In welches Museum geht er? Was kostet eine Kutsche? Wohin fährt er? Zu welchem Ball fährt er? Wo war er tanzen?
Wenn Sie jetzt die Gelegenheit hätten, das Projekt Meyer in 5 bis 10 Worten zu beschreiben?!
Dann könnte ich das nicht! Das ist eine unfaire Frage, das geht nicht.
Das Manuskript von Franz Simon Meyer ist die großartigste Quelle, die ich jemals gelesen habe und eines der erstaunlichsten Bücher, das jemals verfasst wurde. Punkt.
Was sind Ihre Wünsche, Hoffnungen und Träume, die nach dem Erscheinen des Buches eintreten mögen?
Wenn sich Leute durch die Perspektive Meyers und durch die, wie ich finde, sehr charismatische Figur Meyer mit dieser Zeit auseinandersetzen. Oder einfach die spannende Geschichte lesen, einfach ein Leben mitverfolgen. Es spannend finden und wenn sie das so sehnsüchtig und leidenschaftlich tun, dass sie ungeduldig darauf warten, wie es weiter geht. Wann endlich Band II erscheint, und wenn sie das gelesen haben, dann warten bis endlich Band III erscheint. Und wenn sie dann Band III gelesen haben und es schade finden, dass es niemals wieder eine Zeile von Franz Meyer geben wird, dann ist das Ziel erreicht.
Ich bedanke mich ganz herzlich für das Gespräch und drücke Ihnen genau dafür ganz fest die Daumen. Ach ja, gibt es schon einen Erscheinungstermin?
Ja, das Buch kommt am 27. Oktober auf den deutschen Markt.